Landesbischof Meyns: Chance zum Neuanfang


Landesbischof Dr. Christoph Meyns sah die Krise als Chance. Archivfoto: Daniel Köhler
Landesbischof Dr. Christoph Meyns sah die Krise als Chance. Archivfoto: Daniel Köhler | Foto: Daniel Köhler

Braunschweig. Am gestrigen Sonntag hielt der Landesbischof Dr. Christoph Meyns seine Neujahrspredigt im Braunschweiger Dom und erklärte die Krise zur Chance zum Neuanfang.


Landesbischof Dr. Christoph Meyns hat davor gewarnt, die Gegenwart schlecht zu reden und die Vergangenheit im
Rückblick als goldene Zeit der Stabilität und des Friedens zu verklären. Stattdessen sollten wir die Krise als Chance zum Neuanfang begreifen, sagte er am 1. Januar in seiner Neujahrspredigt im Braunschweiger Dom. Dabei gehe es
auch darum, sich selbstkritisch mit den eigenen Fehlern zu konfrontieren und nicht nur die Schuld bei anderen zu suchen.

Der Landesbischof rief dazu auf, sich an „humanitär begründeten ethischen Grundüberzeugungen“ auszurichten. Ohne sie „gleichen wir einem Schiff ohne Kompass“. Die Jahreslosung für 2017, „Ich schenke auch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch“ (Hesekiel 36,26), gelte in besonderer Weise Menschen, die sich in einer Krise befinden.

Lesen Sie hier die Neujahrspredigt im genauen Wortlaut:





Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!

Die Losung für das neue Jahr steht im Buch des Propheten Ezechiel im 36. Kapitel: „Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“

In jeder Sekunde erfassen unsere Sinne rund 1 Milliarde Bits an Informationen, so viel wie eine schnelle Internetverbindung per Glasfaser. Unser Gehirn verarbeitet davon jedoch nur einen Bruchteil weiter, nämlich 100 Bit. Das entspricht dem vom Verkleinerungsmaßstab her dem Verhältnis zwischen der Realität und einer Europa- Karte. Diese 100 Bit werden mit unseren im Gedächtnis abgespeicherten Erfahrungen abgeglichen und im Rückgriff darauf wieder zu einem Bild der Realität in einer Auflösung von 10 Mio. Bit pro Sekunde angereichert. Das entspricht einer Landkarte im Maßstab 1:100.000. Wir erleben die Wirklichkeit also nicht, wie sie ist, sondern als stark reduzierte, durch unsere kulturellen Prägungen, Lebenserfahrungen und Emotionen eingefärbte Konstruktion, eine Art persönliche Landkarte der Realität.

Wir sehen die Welt nicht wie sie ist, sondern wie wir sind.
Das Alte Testament spricht in diesem Zusammenhang von Herz und Geist eines Menschen, mit anderen Worten: das Bündel unserer grundlegenden Überzeugungen, unser Gewissen, unser Antrieb, unser geistiger Orientierungsrahmen, das innere Zentrum, aus dem heraus wir die Welt und unser Leben deuten, der magnetische Pol samt Koordinatensystem, an dem wir uns orientieren.

Der Prophet Ezechiel erlebte, wie um ihn herum Herz und Geist verloren gingen. Nach der Eroberung Jerusalem 587 Jh. v. Chr. war die Oberschicht Israels nach Babylon verschleppt und dort angesiedelt worden. Da saßen sie nun in einem
fremden Land, mit einer fremden Sprache, einer fremden Kultur und einer fremden Religion. Überkommene Werte und Normen, religiöse Überzeugungen und Rituale verloren ihre Bedeutung. Eine umfassende Orientierungskrise war die Folge.

Menschen lassen sich von primitiven Instinkten leiten


Wenn es schlecht läuft, dann geben sich Menschen in einer solchen Situation auf oder lassen sich nur noch von primitiven Instinkten leiten. Wenn es gut läuft, kommt es zu einem Lernprozess: Man sortiert, woran man trotz allem unbedingt festhalten will, anderes wird aufgegeben, manches nimmer man aus der neuen Umgebung auf, anderes stößt man ab. So wachsen allmählich ein neuer Antrieb und ein neuer geistiger Orientierungsrahmen. Eben zu diesem Weg der aktiven Auseinandersetzung ruft Ezechiel seine Mitgefangenen in Babylon auf. Ihm gilt das Versprechen Gottes: „Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“

Die Losung für das neue Jahr gilt also in besonderer Weise Menschen, die sich in einer Krise befinden: weil sie wie die Israeliten ihre Heimat verloren haben und sich in der Fremde neu orientieren müssen; weil eine Diagnose ihre Lebenspläne infrage stellt; weil sie beruflich in Schwierigkeiten stecken; weil Zukunftsperspektiven verschwunden sind; weil sie merken, dass ihre Maßstäbe nicht mehr tragen.

Von den Israeliten heißt es in Psalm 137, dass sie an den Flüssen Babylons saßen und weinten. Ohne dass wir trauern über das, was wir verloren haben, geht es nicht. Sich auf eine neue Lebenssituation einzustellen und darin Perspektiven für sich zu entwickeln, braucht Zeit. Die alten Muster haben ja lange getragen, sie zu ersetzen ist ein aufwendiger Prozess. Zugleich ist die Gefahr groß, dass die Rückschau lähmt und uns daran hindert, den Realitäten ins Auge zu schauen und uns auf den Weg zu machen. Trotzdem, es braucht eine Weile, das Alte angemessen zu verabschieden. Zum Neuanfang gehört zweitens die Auseinandersetzung mit der unangenehmen Frage, in welcher Weise wir selbst zur Entstehung der Krise beigetragen hat. Der neue Geist, von dem Ezechiel spricht, das meint auch die Fähigkeit zum selbstkritischen Blick auf sich selbst. Es ist beeindruckend im Alten Testament zu lesen, wie grundlegend sich die jüdische Gemeinschaft im babylonischen Exil dem stellte. Sie nahm die Kritik der Propheten an den religiösen und sozialen Missständen der Zeit auf, entdeckte darin eine wesentliche Ursache für den Verlust der Freiheit und versuchte, daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.

Ohne Verankerung an humanitär begründete ethische Grundüberzeugungen ein Schiff ohne Kompass


Ohne eine ehrliche Bestandsaufnahme und eine entsprechende Selbstkorrektur gibt es keinen Weg aus der Krise. Herz und Geist zu haben, dass bedeutet auch, sein Gewissen zu schärfen. Ohne eine Verankerung an humanitär begründeten ethischen Grundüberzeugungen gleichen wir einem Schiff ohne Kompass. Was bleibt, sind Instinkte und Begierden. Die aber führen nicht aus der Krise hinaus, sondern nur tiefer hinein.

Irgendwann kommt drittens der Zeitpunkt, an dem man intensiv über die Zukunft nachdenken muss: Woran will ich trotz allem festhalten, was gegen alle Widerstände verteidigen? Was lerne ich aus der Krise, was soll mich deshalb künftig leiten? Und wo bin ich bereit, Altes aufzugeben, mich auf den Weg ins Unbekannte zu machen und Neues auszuprobieren?
In den 60 Jahren des Exils hat sich die jüdische Gemeinschaft auf diese Weise neu erfunden. Tempelkult und Priestertum wurden aufgegeben. An ihre Stelle trat die Synagoge als neuer Versammlungsort. Die Auslegung der Heiligen Schrift und mit ihr die religiöse Gelehrsamkeit rückte ins Zentrum. Das Gottesbild wurde in Auseinandersetzung mit der babylonischen Götterwelt zunehmend monotheistisch geschärft. In dieser Zeit fällt vermutlich auch die Konzentration auf die Beschneidung und die Heiligung des Schabbats als verbindliche Zeichen jüdischer Identität. Auf diese Weise wuchs mit den Jahren ein neues Herz, ein neuer Geist. Auch im Christentum hat es immer wieder intensive Zeiten der Krise, der Selbstkritik, der Besinnung auf das Wesentliche und des Ausprobierens gegeben, etwa in der Reformationszeit. Unternehmen erleben so etwas in regelmäßigen Abständen ebenso wie Parteien, Gewerkschaften, Vereine, Verbände, die Europäische Union, die NATO oder andere internationale Institutionen. Gemeinsam haben wir in Westdeutschland das letzte Mal eine massive gesellschaftliche Krise mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt. Für die Bürger der DDR bedeutete darüber hinaus die Wiedervereinigung vor 26 Jahren eine weitere Umwertung aller bisherigen Werte. Das Leben läuft nicht in durchgehend stabilen Bahnen, sondern im Wechselspiel von Stabilität, Krise und Erneuerung.

Friedliches Zusammenleben als höchstes Gebot


Es mag uns so vorkommen, als ob die Veränderungen seit den politischen Verschiebungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zugenommen haben und mit dem Platzen der Immobilienblase 2008 weiter an Fahrt annehmen. Banken-, Euro- und Staatsschuldenkrise, Energiewende, Flüchtlingshilfe, Brexit, der amerikanische Wahlkampf und jetzt der Anschlag in Berlin: Wir scheinen unsicheren Zeiten entgegenzugehen. Hinzu kommt, dass die Weltbevölkerung seit 1990 um 40 % von 5 auf 7 Mrd. Menschen gestiegen ist. 2040 werden voraussichtlich 9 Mrd. Menschen auf der Erde leben, mit allem, was das für ökologische Themen, die Nutzung natürlicher Ressourcen, für das friedliche Zusammenleben der Völker, für ethische Fragen und die Bildung kultureller Normen bedeuten mag.

Man muss sich allerdings hüten, die Gegenwart schlecht zu reden und die Vergangenheit im Rückblick als goldene Zeit der Stabilität und des Friedens zu verklären, nach dem Motto „früher war alles besser“. Eine solche Haltung mag ein
notwendiger Teil von Trauerprozessen sein, führt aber nicht weiter. Krisen hat es immer gegeben, zu Zeiten der alten Israeliten ebenso wie heute, und es wird sie immer wieder geben: persönliche wie gesamtgesellschaftliche.
Deshalb bitten wir Gott heute für das neue Jahr nicht darum, uns vor Krisen zu beschützen. Wir bitten ihn vielmehr mit den Worten des Propheten Ezechiel darum, uns durch die Krisen, die zweifellos kommen werden, mit seinem Segen hindurch zu geleiten. Damit wir nicht in Trauer und Ängstlichkeit stecken bleiben, sondern die Unsicherheit als Chance zum Neuanfang begreifen, damit wir nicht die Schuld bei anderen suchen, sondern uns selbstkritisch mit unseren eigenen Fehlern konfrontieren lassen, damit wir nicht gedankenlos niedrigen Instinkten folgen, sondern uns Zeit für die geistige Auseinandersetzung mit der Realität nehmen, damit wir uns auf das Wesentliche besinnen, Altes verabschieden und den Mut finden, neue Wege auszuprobieren und am Ende mit Gottes Hilfe etwas Neues wächst, das sein Wohlgefallen findet.

Darum bitten wir ihn für uns ganz persönlich wie für unsere Familien. Darum bitten wir ihn für unser Land, für Europa und für die ganze Welt. „Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“

Amen.



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